Flachs und Leinen – die kleine Geschichte zu dem großen Anschauungsset Flachs XL

Wir möchten an dieser Stelle versuchen, die Vielzahl der Muster in unserem Anschauungsset Flachs XL in einen Sachzusammenhang zu setzen, damit der Set in Materialbibliotheken, Seminaren oder Schulungen auch seinen Sinn erfüllen kann. Insbesondere bei im Team zu leistenden Jahresarbeiten, bei denen dennoch eine Aufteilung in einzeln bewertbare Teilbereiche (z.B. Rohstoff, Textile Kette, Technische Anwendungen) erfordern, können wir uns diesen Anschauungsset als ebenso hilfreich wie verbindend vorstellen.
Die im Text fett gesetzten Materialien sind sämtlich in dem Anschauungsset XL enthalten.

Wie so vieles beginnt auch die Geschichte des Leinens mit der Aussaat von Flachssamen, hierzulande oft zwischen Mitte März und Anfang April. Nach etwa 100 Tagen ist der Flachs erntereif, mitsamt Teilen der Wurzel aus der Erde gezogen und getrocknet spricht man dann von ihm als getrocknetem oder ungeröstetem Flachsstroh. Die Kapseln mit den Samen sind nicht vollständig geöffnet, meist finden sich zwischen 5 und 7 (max. 10) Samen je Kapsel. Anders als bei Öllein wünscht man sich beim Faserlein möglichst wenige bzw. kurze Verzweigungen in den Flachsspitzen.
Gelegentlich wird bereits dieses lediglich getrocknete Flachsstroh maschinell weiter verarbeitet: es wird geriffelt (d.h. die Kapseln werden abgekämmt ) und der entkapselte Stängel zwischen Zahnwalzen gebrochenen. Dieses gebrochene Flachsstroh nennt man Brechflachs, früher bei Polsterern aufgrund seiner Rückstellneigung und Haltbarkeit ein beliebter Werkstoff für Sitzpolster. In diesem Brechflachs müssen noch Holzteilchen, die Flachsschäben, enthalten sein, weil nur die Kombination von Faser und Holz für die gewünschten Polstereigenschaften sorgt. Lässt man den ungerösteten Flachs nach dem Brechen weiter durch eine industrielle Flachsschwinge laufen, so werden die Holzteile abgetrennt und man erhält einen ungerösteten Langflachs oder Grünflachs.
Der weitaus gebräuchlichere Weg besteht jedoch darin, das getrocknete Flachsstroh einem natürlichen, mikrobiologischen Aufschluss auszusetzen. Dieser Aufschluss kann entweder von Pilzen auf dem Acker bewirkt werden (Tauröste) oder von Bakterien in einem Wasserbassin oder in einer Röstkuhle (Wasserröste). Am Ende beider Verfahren steht der weitgehende Abbau von u.a. Pektinen, das sind Pflanzenleime, welche die äußere Faserschicht mit dem inneren Holzteil verkleben und so für die Stabilität im Flachsstängel sorgen. Die Tauröste dauert je nach Witterung 3 bis 6 Wochen und erbringt das Tauröststroh, die Wasserröste dauert je nach Wassertemperatur und Mineralgehalt des Röstwassers 5 bis 40 Tage und erbringt das Wasserröststroh. Im Unterschied zu den ungerösteten Flachsstängeln lassen sich die Stängel der beiden gerösteten Varianten leicht zwischen Daumen und Zeigefindern brechen und die Holzteile ausstreifen. Diese Holzteile werden Scheben oder Schäben genannt und bilden ein wertvolles Kuppelprodukt der Flachsgewinnung, welches sich u.a. hervorragend als Tiereinstreu oder Torfersatz in Blumenerde eignet.
Die industrielle Flachsfaseraufbereitung teilt demnach das im Tau oder mit Wasser aufgeschlossene Flachsstroh in zwei Faserfraktionen sowie die oben bereits erwähnten Kapseln und die Scheben auf. Bei den Faserfraktionen handelt es sich um die so genannten Langfasern und das Schwungwerg, die jeweils in getrennten Produktlinien weiter verarbeitet werden.
Der Langflachs, einerlei ob Tauröstflachs oder Wasserröstflachs wird, ebenso wie chemisch gebleichter Grünflachs,  im nächsten Arbeitsschritt gehechelt. Früher (und in unserer kleinen Flachswerkstatt) geschah bzw. geschieht dies von Hand, indem die einzelnen Langflachsvarianten immer wieder über Sätze von immer feiner werdenden Kämmen geführt werden. Als Kuppelprodukt zu dem faserparallelen Hechelflachs fällt an dieser Stelle auch das Hechelwerg an. Dabei handelt es sich um jene Flachsfasern, die beim Kämmvorgang in den Hechelkämmen hängen geblieben sind.
Wird das Hecheln maschinell durchgeführt, so erhält man ein Faserband, in welchem der Hechelflachs dachziegelartig über- bzw. aneinander gelegt wurde. Dieses Hechelband wird im Folgenden immer feiner verstreckt, gekämmt und schließlich mit geringer Drehung zu einem Vorgarn, der sog. Flyerlunte, versponnen, aus dem schließlich im traditionellen trockenen oder nassen Ringspinnverfahren das eigentliche Leinengarn entsteht.
Während der Langflachs über den gesamten Verlauf der Flachsschwinge oder Schwingturbine in eingeklemmtem, parallelen Zustand gehalten wird, liegen die beim Ausschlagen der Schäben mitgerissenen Fasern, das sog. Schwungwerg, in einem wirren, ungerichteten Zustand vor. Zudem enthält das Schwungwerg zunächst noch beträchtliche Mengen an Schäben, die in speziellen Reinigungsmaschinen (Wergschüttler, Wergschwinge) überwiegend abgetrennt werden.
In großen Maschinen mit benadelten Walzen, den Flachskarden, wird das Flachswerg parallelisiert und zu einem Band geformt. Sehr grobe Leinengarne werden direkt aus diesem Band ersponnen. Wertet man das Schwungwerg durch Zumischen von Hechelwerg auf, können analog dem Verspinnen von Langflachs aus dem Kardenband nach Verstrecken und Kämmen auch mittlere Garnfeinheiten gesponnen werden.
Daneben können Schwung- und Hechelwerge auch „cotonisiert“ werden. Dabei werden die vergleichsweise langen (150 bis 350 mm) technischen Flachsfaserbündel durch spezielle Maschinen etwa auf die Faserlänge (30 bis 45 mm) der Baumwolle eingekürzt und im Faserquerschnitt aufgespalten. Dabei können sowohl naturbelassene Werge als auch zuvor gebleichte Werge genutzt werden. Das so erhaltene graubraune oder weiße „Cotonisé“ kann dann mittel Baumwollspinntechnologie in Bandform gebracht und mit leistungsfähigen Ring- oder Open-End-Spinnmaschinen zu Garnen versponnen werden. Mischt man den cotonisierten Flachs in der Spinnereivorbereitung mit anderen Fasern wie beispielsweise Baumwolle, Seide, Polymilchsäurefasern oder Polyester, so erhält man Mischbänder, auch Hybridbänder genannt, die dann entsprechende Mischgarne ergeben.

Neben textilen Zwecken findet das Schwungwerg auch Verwendung in einer Vielzahl von technischen Produkten: Schneidet man im Parallelschnitt beispielsweise ein aus besonders hochwertigen Wergen gefertigtes Kardenband in kurze, dabei einheitlich lange Stücke (z.B. 6 mm) dann erhält man eine Kurzstapelfaser 6 mm, wie sie u.a. in Reibbelägen für KFZ und Bahn verwendet wird.
Vergrößert man die Schnittlänge auf z.B. 80 mm, dann bildet diese Langstapelfaser 80 mm das Ausgangsmaterial für höchstwertige Vliese oder, gemischt mit thermoplastischen Fasern, das Ausgangsmaterial für Biocomposites mit hohen Einzelfaserlängen im Compound wie z.B. in einem Pull-Drill Flachs/PP Biocomposite.
Liegen die Flachsfasern in kürzer Form vor, können sie gemeinsam mit als Granulat vorliegenden thermoplastischen Kunststoffen in Schneckenextrudern erhitzt, miteinander vermischt und granuliert werden. Auf diese Weise wird ein spritzgussfähiges Granulat gewonnen, welches zu einer Vielzahl von Naturfaser verstärkten Kunststoffteilen endverarbeitet werden kann.

Da gebleichtes und gereingtes Schwungwerg nahezu vollständig aus Cellulose, Hemicellulose und Pektin besteht, kann man daraus in speziellen Mühlen eine Feinfaser kleiner 160 my herstellen, die zum kalorienfreien Eindicken bzw. als Stellmittel von beispielsweise industriell gefertigten Desserts eingesetzt werden kann.

Ab der Stufe Leinengarn (hier wechselt üblicherweise der Name von Flachs zu Leinen) wird, mit einigen Abstrichen, die industrielle Basis wieder breiter. Leinengarne in einem weiten Feinheitsbereich Nm 2 bis Nm 60 (d.h. mit Lauflängen zwischen 2m und 60 m je Gramm Garn) können als Einfachgarn oder Leinenzwirn verwebt, verstrickt oder gewirkt werden. Auch ein Färben, Bleichen, Beschichten oder Bedrucken der so entstehenden textilen Flächen ist möglich. Es entsteht eine breite Palette von zehntausenden verschiedener Leinenstoffe für Bekleidung, Heimtextilien oder technische Anwendungen. Wir haben als universell nutzbares Beispiel für ein Leinentextil ein Paar  aus Reinleinen zum fusselfreien Polieren von Gläsern ausgewählt.

Den Set mitsamt einer Auflistung der darin enthaltenen Muster finden Sie hier